Prof. Dr. Hubert Kimmig, Direktor der Klinik für Neurologie im Schwarzwald-Baar Klinikum beim Vortrag der Initiative Schlaganfall zum Thema Schwindel

Forum Initiative Schlaganfall im Januar:

„Wenn der Schwindel dreht und schwankt“

Was ist der Schwindel für ein Phänomen?

Ein kleiner Mensch mit einer Gangataxie stürzt und steht wieder auf. Bei einem 80-jährigen ist das anders, der wird nach solch einer Situation in die Klinik eingeliefert, oftmals mit einem Oberschenkelhalsbruch. (Gangataxie: Störung der Bewegungskoordination, die sich durch einen breitbeinigen, unsicheren Gang bemerkbar macht). Der Unterschied: Ein Kleinkind kann nach 2-3 Jahren perfekt laufen, das Gleichgewicht halten, der ältere Mensch kann das nicht mehr so gut.

Das Gleichgewichtsorgan

Prof. Kimmig: „Das Gleichgewichtssystem besteht aus 3 Sinnessystemen, mit denen das Gehirn zurechtkommen muss: Das Gleichgewichtsorgan, das eigentlich ein Beschleunigungsmessgerät ist, sitzt direkt hinter dem Ohr. Dann gehört das Sehen dazu, das viel zur Stabilisierung beiträgt und als Drittes die Tiefensensibilität, die anzeigt, wie der Fuß und damit der Körper auf dem Boden steht. Diese 3 Informationen bekommen wir aus der Außenwelt, das Gehirn muss daraus eine Information über das Gleichgewicht liefern. Im Normalfall wird verhindert, dass man aus dem Gleichgewicht gerät, damit es nicht zum Sturz kommt. Ein ganz kurzer Reflex geht vom Gleichgewichtsorgan in den Hirnstamm, von dort über die Nerven zum Augenmuskel. Der schnellste Reflex – innerhalb von 10 ms wird die Information weitergegeben. Funktioniert dieser Reflex nicht, beginnen die Augen seitliche Driftbewegungen zu machen und werden dann ruckartig wieder zurückgestellt. Erfolgt diese Augenbewegung beim Stillsitzen, hat man den Eindruck, dass sich der Raum dreht. Dann wird es einem schwindlig und übel und es kommt zum Brechreiz“.

Schwindel oder Gleichgewichtsstörungen haben folgende Ursachen:

Erkrankung des Gleichgewichtsorgans bzw. -nerv, Störungen im Sehsystem (grüner Star, Grauer Star, Makuladegeneration, Störungen der Tiefensensibilität – die Nerven am Bein (Polyneuropathie), auch Diabetes und regelmäßiger Alkoholkonsum gehören dazu. Durchblutungsstörungen des Gehirns, psychiatrische Störungen (Angsterkrankungen und Depressionen) sowie internistische Störungen (zu hoher oder zu niedriger Blutdruck, zu hoher oder zu niedriger Blutzucker, Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz) können Schwindel verursachen und das Riesenthema Medikamente.

Was führt alles zum Schwindel

All das muss irgendwie untersucht werden beim Symptom Schwindel. Der Arzt muss nun im Gespräch mit dem Patienten 4 Fragen klären:

Frage Nr 1: Handelt es sich um einen Drehschwindel, das „Karussellfahren“, oder ist es eher ein Benommenheitsschwindel im Sinne von Unsicherheit, Leeregefühl im Kopf, Taumeligkeit, Gefühl der Unwirklichkeit, „wie auf Watte gehen“.

Die zweite Frage: wie lange hält der Dreh- oder Schwankschwindel an. Dabei interessieren nicht die Sekundärprobleme wir Übelkeit und Brechreiz. Sind es Sekunden, auch wenn der Schwindel immer wieder kommt, oder sind es Minuten bis Stunden, oder gar ein Dauerschwindel. Ein Drehschwindel, der nur ein paar Sekunden anhält, könnte ein Hinweis auf einen gutartigen Lagerungsschwindel sein. Hier geht es um Kristalle im Ohr, die bei einer Veränderung der Lage (umdrehen im Bett, Aufrichten aus dem Bett, Bücken…) Schwindel bewirken können. Ein anderer Fall ist der Benommenheitsschwindel, der auftritt, wenn man aufsteht.

Verschiedene Tests für die Untersuchung der Ursachen von Schwindel

Frage Nr. 3 ist die nach dem Auslöser des Schwindels. Gibt es Situationen, in denen der Schwindel häufig auftritt? Hier kommt die Entscheidung z. B. zum Lagerungsschwindel oder bei Neuropathie, wenn der Patient aufsteht oder herumläuft.

Frage 4: Gibt es weitere neurologische Symptome: Doppelbilder, Gefühlsstörungen. Lähmungen oder Ataxie. Hier besteht die Gefahr einer zentralen Störung

Es muss schnell geklärt werden, ob es sich um eine periphäre Störung – Störung des Gleichgewichtsorgans oder um eine zentrale Störung (im Gehirn) handelt. Dazu gehören die oben aufgeführten 4 Fragen und die Frage, ob es Erkrankungen im Gefäßsystem gibt, Risikofaktoren, also die typischen Kennzeichen für einen Schlaganfall: hohes Alter, Bluthochdruck, Rauchen, erhöhtes Cholesterin, Diabetes, Übergewicht, körperliche Inaktivität und in der Vorgeschichte bereits eine TIA oder ein Schlaganfall. Dann ist bei Schwindel Vorsicht geboten. Stand- und Gangunsicherheit ohne Augenbewegungen, sowie Ataxie, d.h. ataktische Bewegungen, kein zielgerichtetes Greifen, unkoordiniertes Gehen ohne gelähmt zu sein, können auf einen Schlaganfall deuten

Ein einfacher Test zur Erkennung von Gleichgewichtsstörungen

Ein junger Patient mit Schwindel wird eher keinen Schlaganfall haben. Anders ist es bei einem älteren Patient mit Schwindel und Diabetes, Bluthochdruck, Raucher – hier ist das Risiko, dass es sich um einen Schlaganfall handelt groß.

Die häufigste Schwindelform ist ein gutartiger Lagerungsschwindel, dessen Behandlung relativ einfach und schnell durchzuführen ist:

Im Sinnesorgan befindet sich eine Ansammlung von kleinen Kristallen (Klumpen), die durch Traumata oder auch altersbedingt entstehen können. Beim Drehen des Körpers sinken diese an die tiefste Stelle im Bogengang, es wird ein Impuls ans Gehirn gegeben, die Augen fangen an zu drehen und der Patient bekommt Schwindel. Kommt der Klumpen zum Stillstand, hört der Schwindel auf. Bei jedem Lagerungswechsel passiert das immer wieder. Die Therapie ist relativ einfach: Der Patient wird hingelegt, nach ca. 30 Sekunden ist der Klumpen zur Ruhe gekommen, der Körper muss ruckartig in die Gegenrichtung gedreht werden, wodurch der Klumpen in einer Lücke aus dem Bogengang rutschen kann. Damit ist die Störung in den meisten Fällen behoben, die Erfolgsquote liegt bei 80%

In der Notaufnahme muss relativ schnell erkannt werden, ob es ein Schlaganfall ist, denn Time is Brain

Heftiger dauerhafter Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen, eine Fallneigung mit dauerhafter Augenbewegung deutet auf eine Entzündung im Gleichgewichtsorgan oder im Gleichgewichtsnerv.

Rucken die Augen ein wenig, und steht ein Auge etwas tiefer als das andere, deutet das auf eine zentrale Störung – es könnte ein Schlaganfall sein. Ebenso bei einem akut auftretenden leichten Schwindel mit leichter Gangunsicherheit, der längere Zeit anhält und der Wahrnehmung von Wackeln der Bilder, hier kann eine Störung im Hirnstammbereich vorliegen und damit die Gefahr eines Schlaganfalls

Und dann gibt es den Schwindel im Alter:

Meist ist es ein Schwankschwindel, manchmal auch ein Drehschwindel. Zusätzlich tritt Gangunsicherheit auf, man stürzt. Oft gibt es Vorerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Durchblutungsstörungen am Herzen, Hörprobleme, Wirbelsäulenleiden und Depressionen. Das zeigt: Schwindel im Alter ist sehr komplex.

Studien zeigen: 33% der über 70-Jährigen geben eine Kombination von Schwindel und Sturz an, 30% der über 65-Jährigen stürzen einmal im Jahr. Bei den 90-Jährigen sind es 50%.

Sturzgefährdung wegen Chronischem Schwindel bei älteren Patienten

60% der Patienten mit Sturz im Vorjahr stürzen wieder. Die Stürze sind nicht mehr so einfach „wegzustecken“. Die Folgen: 50% der Gestürzten können nicht wieder alleine aufstehen, sie liegen bei schlechterer Prognose länger. Ursachen für den Schwindel im Alter: ca. die Hälfte liegt am Gleichgewichtsorgan, ein Viertel liegt im Kleinhirn, im Hirnstammbereich – also Schlaganfall, ca. 7% hat Polyneuropathie, die Beinnerven sind die Ursache und der Rest verteilt sich auf internistische Erkrankungen, medikamentöse Mehrfachbehandlungen und auf Sehstörungen. Eine Studie zeigt auch, bei der Einnahme von mehr als 5 Medikamenten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass man Schwindel erleidet.

Schwindel im Alter hat mehrere Faktoren und damit ein hohes Sturzrisiko. Was tun? Jede Ursache muss für sich getrennt betrachtet werden und jede dieser Ursachen therapeutisch angegangen werden. Blutdruckeinstellung, Diabeteseinstellung, Untersuchung des Gleichgewichtsorgans, die Ursache der Polyneuropathie finden. Die Medikation sollte möglichst reduziert werden. Physiotherapie kann immer angewendet werden, egal welche Ursache von Schwindel vorliegt. Dazu gehören Gleichgewichtsübungen und Tanzen als gute Möglichkeit des Trainings.

Schwindelursachen bei älteren Patienten

Weitere Unterstützung bringen Ergotherapie, und eine Hilfsmittelberatung – Unterstützung bei der Entscheidung für eine Gehhilfe, braucht man eine Fußheberorthese, Hüftprotektoren als Sturzhilfe und eine Wohnungsberatung.

Gefahren bestehen immer bei längerem Krankenhausaufenthalt, weil die Kraft nachlässt, die Gangunsicherheit zunimmt – das Sturzrisiko ist im ersten Monat danach enorm hoch. Schlechtes Schuhwerk sollte vermieden werden, die Wohnung sollte behindertengerecht gestaltet werden. Die Ursache von vielen Stürzen liegen in zu wenig Licht, Kabel von Tischleuchten sind im Weg, Teppiche und Läufer oder herumliegende Dinge am Boden – also Beseitigung von Stolperfallen ist wichtig. Regelmäßige Kontakte zu Nachbarn oder Verwandten sind hilfreich und ein Notruffunk, um Hilfe herbeizuholen

Fazit: Chronischer Schwindel ist bei älteren Menschen sehr häufig, darunter gibt es nur wenige Schlaganfälle. Manche Ursachen können beseitigt werde, manche Ursachen verbessert werden, aber bei manchen Ursachen ist auch der Arzt machtlos. Aus dem multifaktoriellem Ansatz resultieren Verbesserungen zwischen 25 und 40%, die dem Patienten helfen.

Schlaganfall und Schwindel

Prof. Kimmig: “Gut zu wissen: nicht jeder, der Schwindel hat, muss gleich an einen Schlaganfall denken, aber bei zusätzlichen Symptomen wie Doppelbilder oder Gefühlsstörungen sollte man immer die 112 anrufen. Schwankschwindel mit Fallneigung, ataktischen Bewegungen ohne Augenbewegungsstörungen erhöhen den Verdacht auf einen Schlaganfall und bei Patienten im hohen Alter mit Bluthochdruck, Diabetes, Nikotinkonsum, erhöhtem Colesterin und früherer Schlaganfälle oder Herzinfarkte muss man den Schlaganfall mit bedenken“.