Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Norbert Grulke, Ärztlicher Direktor der Luisenklinik Bad Dürrheim im Gespräch mit der Initiative Schlaganfall

Sind wir wirklich unseres Glückes Schmied?

Geplant war ein Vortrag – nicht alles wollten wir verschieben, vor allem nicht, wenn das Thema sehr aktuell ist und vielleicht/hoffentlich auch manchem gerade jetzt guttun kann. Wir sprachen mit dem Ärztlicher Direktor der Luisenklinik in Bad Dürrheim Prof. Dr. med. Dr. rer. soc. Norbert Grulke über das Thema „Glück und Zufriedenheit“ – insbesondere jetzt in den unruhigen Coronazeiten und vor dem baldigen Weihnachtsfest.

Lässt sich Glück definieren? Ist das Glück ein Ereignis von kurzer Dauer oder ist das Glückshormon in der Lage, diesen Zustand zu verlängern?

Prof. Dr. Grulke: Es gibt keine allgemeingültige Definition für Glück, aber verschiedene Ansatzpunkte: Vom Wort „gelucke“ (althochdeutsch für Glück) her, bezieht sich das auf eine Sache, die gut ausgegangen ist, wenn es das Schicksal gut mit einem gemeint hat. Erst in der jüngeren Zeit hat sich die Bedeutung gewandelt. Glück ist heute zum Beispiel auch, wenn man einen „Sechser“ würfelt oder im Lotto gewinnt.

In der Glücksforschung untersucht man eher Wohlbefinden, eine überdauernde Zufriedenheit als das momentane Glück. Dies hat eine lange Tradition. Schon zu Zeiten von Aristoteles ging es in die Richtung. Und zum Glücklichsein gehörte schon damals ein gewisser Wohlstand dazu und eine materielle Sicherheit.

Eine deutliche Unterscheidung gibt es im Konsumverhalten: Wer das größere Auto als der Nachbar braucht, oder unbedingt die schickere Uhr haben muss, das modischere Accessoire – diese Art von Konsum macht definitiv nicht glücklich, macht sogar eher unglücklich. Im Moment mag die Freude groß sein, aber irgendwann hat der Nachbar wieder ein größeres Auto, der andere die wertvollere Uhr.

Ein anderer Aspekt ist die Einstufung in die Kategorie „Genügsame“ oder „Optimierer“. Der Genügsame kauft einen Artikel den er braucht, der Optimierer sucht sich aus den vielfältigen Varianten des Artikels den günstigsten aus – meist ist da der Preis entscheidend. Die Genügsamen sind zufriedener als die Optimierer, weil bei letzteren im Hintergrund immer noch die Sorge steht: „Habe ich wirklich den optimalen Einkauf getätigt?“.

Es ist die Frage, ob Konsum ein Tun oder Handeln ist. Also, wenn man ins Konzert, ins Kino oder ins Theater geht – und das am besten nicht allein – dann macht Konsum glücklich. Ein Wellness-Wochenende zu zweit (Partner, Freunde, Geschwister) macht glücklicher, als wenn man sich etwas kauft. Konsum kann glücklich machen, wenn man sich etwas „gönnt“, ein demonstrativer Konsum – sichtbar für andere – macht dagegen nicht wirklich glücklich.

… das heißt in der Tat, Glück ist eher Zufriedenheit und Wohlbefinden, also eine gute Partnerschaft, Kinder, gute Freunde und Bekannte, das Gefühl zu haben, dass mein Leben einen Sinn hat?

Prof. Dr. Grulke: Es ist ganz sicher so: der Quell des Glückes ist für uns Menschen eine gute Beziehung. Auch die Erinnerungen an gute Beziehungen können besonders bei Älteren eine große Zufriedenheit bedeuten.
Menschen, die gerne lesen, können auch zu der Geschichte des Buches eine Beziehung aufbauen.
Gute Beziehungen sind unser Kraftquell, das ist das, was uns zufrieden macht. Eine gute und dauerhafte Beziehung ist immer ein Geben und Nehmen.

Kann Glück verschenkt werden? Also anderen eine Freude bereiten, ein kleines Geschenk geben, oder jemanden, der gerade jetzt wenig Kontakte hat, einfach mal anrufen? Kommt nicht damit schon ein Stück Glück wieder zurück?

Prof. Dr. Grulke: Ein Anruf bei Menschen, die sehr einsam sind kann glücklich machen, überhaupt macht Schenken glücklich. Es ist eine Tatsache: Geben ist seliger denn nehmen. Das ist nicht nur so dahingesagt, dahinter verbirgt sich die Idee, etwas Gutes zu tun und anderen etwas zu schenken. Der Schenkende ist danach messbar zufriedener. Noch wertvoller als ein materielles Geschenk können Zeit und Aufmerksamkeit sein. Natürlich ist für den, der auf der Straße lebt, eine „materielle Gabe“ erst einmal wichtiger als ein Gespräch. Aber für jemanden, der materiell keine Probleme hat, ist Letzteres natürlich wichtiger.

Schenken und Spenden ist gleichsam etwas Gutes – insofern kann reich sein gut und nützlich sein. Dagegen macht „Raffen“ nicht glücklicher und zufriedener. Allerdings ist es auch eine Mär, dass reich sein unglücklich macht. Wer im Überfluss lebt ist freier in seiner Lebensgestaltung und hat auch eher weniger Sorgen, als einer der aufgrund seiner Situation existenzielle Probleme hat.

Sollte man sich selbst auch bewusst belohnen, eine Kleinigkeit kaufen oder sich mal was Besonderes leisten, um damit die Lebensfreude zu steigern? Oder wie kann ich mir mein Wohlbefinden, meine Zufriedenheit selbst schaffen?

Prof. Dr. Grulke: Aber ja, man sollte sich selbst auch Gutes tun, sich etwas kaufen. Dabei sollte man sich aber auch selbstkritisch hinterfragen: Warum mache ich das? Wenn es in Richtung demonstrativen Konsum geht, dann macht das nicht glücklicher. Hat man aber schon eine Zeit lang diesen einen Wunsch, vielleicht auch darauf gespart, dann hat diese Wunscherfüllung das Potenzial, zufriedener zu machen.

Gerade jetzt an Weihnachten kann es auch eine Überlegung wert sein, sich einen Christbaum zuzulegen, was man in den letzten Jahren vielleicht nicht getan hat. Oder man verwöhnt sich mit einer Flasche Wein, die man sich nicht jede Woche leisten würde, hört sich ein Konzert an oder liest ein interessantes Buch. Das sind die schönen Momente, die einen zufrieden machen können. Ist die Flasche Wein aber dazu da, bei der nächsten Gelegenheit damit anzugeben, hat das eher das Potenzial unglücklich zu machen.

In der Zufriedenheitsforschung glaubt man zu wissen, dass wir dann am zufriedensten sind, wenn wir etwas für uns tun, zum Beispiel eine CD mit der Musik, die man schon lange hören wollte zu kaufen, und dann bewusst die Momente des Zuhörens genießt.

Selbst aktiv sein, ist also wichtig? Ist Warten auf einen „glücklichen Moment“ kontraproduktiv? So nach dem Motto, es kommt eh keiner…

Prof. Dr. Grulke: Kontakte zu pflegen ist ganz, ganz wichtig! Das ist der erste Schritt, selbst aktiv zu werden. Menschen, die aktiv sind, haben größere Chancen zufrieden zu sein und kommen besser durchs Leben, als die, die inaktiv sind.

Leben ist Aktivität, Leben ist Handeln. Auch wenn es im Alter schwieriger sein kann, ist durch Anpassung an die Gegebenheiten vieles möglich. Hier sind aus meiner Sicht die „sozialen Medien“ (oder manchmal auch asozialen Medien) wie Facebook oder WhatsApp die idealen Erfindungen für die ältere Generation, die kein direktes soziales Umfeld mehr habt. So können sie Kontakt mit Bekannten oder auch mit den weiter entfernt wohnenden Familienangehörigen halten.

Gerade jetzt, wo in der Coronazeit Kontakte eingeschränkt sind…

Prof. Dr. Grulke:  …stimmt, wenn sich die Großeltern nicht mit den Enkeln treffen können, sind Telefonieren oder Kontakte über die sozialen Medien ganz wichtig. Und es zeigt, selbst aktiv zu sein ist immer hilfreich.

Ist Zufriedenheit altersabhängig?

Prof. Dr. Grulke: Ganz klar: Ja, Zufriedenheit steigt mit dem Alter. Ältere Menschen wissen es zu schätzen, dass es ihnen gut geht. Die Freude über die kleinen Dinge ist da. Bei Jüngeren ist das Streben nach mehr, nach Anerkennung, nach einem höheren Einkommen, nach Karriere, tiefer drin. Bei denen geht es auch um die Versorgung der Familie, man hat den Wunsch, das gut „hinzubekommen“.

Ältere suchen eher emotional befriedigende Momente. Es stellen sich die Fragen: Was tut mir gut, was gefällt mir? Das macht die größere Zufriedenheit im Alter aus. Interessant ist ein Ergebnis einer Studie über Hundertjährige, die vor ein paar Jahren veröffentlicht wurde: Der Großteil dieser Hundertjährigen ruhte in einer großen inneren Zufriedenheit in sich.

Helfen so genannte Glücksbringer wie ein vierblättriges Kleeblatt, ein Schutzengel oder ein Schmeichelstein – was bedeutet der Glaube an so etwas?

Prof. Dr. Grulke: Wenn man dran glaubt, hilft das bestimmt. Das Problem ist aber, dass diese Menschen auch glauben, dass die über den Weg laufende schwarze Katze Unglück bringt. Vernünftig wäre, wenn man an die Glücksbringer glaubt, aber das andere als Aberglaube oder Quatsch abtut. Aber einen Schutzengel kann eigentlich jeder brauchen und mit Glücksbringern verbindet man immer auch Hoffnungen.

Natürlich gibt es für jeden von uns im Alltag Sorgen. Nützt es, diese aufzuschreiben und sie einfach an der „Garderobe abzugeben“?

Prof. Dr. Grulke: Es gibt psychotherapeutische Techniken, die so ähnliche Ansätze verfolgen, zum Beispiel die Sache mit dem Sorgenstuhl. Auf diesem sollen sich Patienten alle Ihre Sorgen „machen“, aber wenn sie aufstehen, diese Sorgen auch dort lassen. Das Aufschreiben der Sorgen hat aber noch eine andere Funktion. Hintergrund ist: Ausschließlich in Gedanken sind wir alle eher nachlässig. Beim darüber reden sind wir schon etwas aufmerksamer. Aber wenn wir etwas zu Papier bringen, machen wir uns automatisch mehr Gedanken.

Das Problem sind „Grübelketten“, also ein endlos über etwas Nachdenken. So etwas kann man nicht aufschreiben, selbst das Reden darüber fällt schwer. Aber das ständige Kreisen um irgendwelche Sorgen kann uns schnell den Schlaf rauben. Das Aufschreiben von Sorgen bedeutet, dass man sich damit befasst, sich damit auseinandersetzt und so zu einer Einstellungsänderung kommen kann. Es ist wichtig zu lernen, Sorgen hinzunehmen, die Situation oder das eigene Schicksal anzunehmen. Und dann kann man sich leichter tun in Richtung Veränderung oder auch nach Lösungen suchen.

Wie komme ich dazu, am Abend zu sagen: Mein Tag war heute gut?

Prof. Dr. Grulke: Man sollte abends die guten Momente rekapitulieren. Geradezu ideal ist es, dafür ein Tagebuch zu führen und insbesondere die guten Dinge aufzuschreiben. Wir Menschen – das ist genetisch bedingt – nehmen leider Negatives besser wahr, es bleibt uns besser im Gedächtnis haften. Ein klassisches Beispiel: Sie haben Verluste an der Börse, dann müssen Sie dreimal so viel Gewinn machen, um die Verluste auszugleichen, damit Sie von der Zufriedenheit wieder auf den gleichen Level kommen. Alles was negativ ist, ist potenziell bedrohlich. Wichtig ist, die eigenen Gedanken zu steuern und Erlebnisse richtig einzuordnen. Wobei es eben doch so ist, dass das Negative besser haften bleibt und gerade deshalb ist es gut, sein Denken auf das Positive zu lenken. Den guten Gedanken gezielt und gewollt mehr Raum zu geben, bedeutet eine größere Zufriedenheit.

Das heißt, in jedem von uns steckt das Potenzial, ein zufriedenes, nennen wir es durchaus auch glückliches Leben zu erreichen?

Prof. Dr. Grulke: Ja, wir haben eine gewisse Basis an Zufriedenheit, die aber einen Spielraum bietet. Und mit diesem Spielraum kann man durchaus etwas ändern, indem man für sich eine Einstellungsänderung realisiert. Wenn unsere Außenwelt eine gewisse Konstanz und Sicherheit bietet – und ganz wichtig – wir gute emotionale Beziehungen pflegen, wächst unsere Zufriedenheit. Das eigene Dasein sollte man als sinnhaft betrachten können. Die Sinnhaftigkeit definieren wir auch darin, wie wir anderen etwas Gutes tun und, dass wir für andere nützlich sind. Um glücklich und zufrieden zu sein, schadet es nicht, wenn man immer eine Prise Dankbarkeit zeigt für das, was man hat.

Aber sind nicht Weihnachten und Silvester besonders schwer beladene Zeiten, sind unsere Erwartungen an diese Tage zu hoch? Ist das größte Problem dieser besonderen Zeit, dass der Ablauf vielleicht ein anderer sein wird, als in der Vergangenheit?

Prof. Dr. Grulke: Wenn jemand selbst entscheidet, ich bleibe lieber alleine, dann ist sein Weihnachten sicherlich kein so großes Problem. Wer aber den liebgewonnenen weihnachtlichen Kirchenbesuch nicht wahrnehmen kann, oder wenn die Weihnachtsfeier im Heim nicht stattfindet und wer dann auch noch zu Familie oder Bekannten keine Kontakte hat, für den sind die Weihnachtstage eine hohe Belastung.

Eigentlich möchte man an Weihnachten zufrieden sein, es harmonisch und nicht einsam als klassisches Fest der Familie feiern. Deshalb ist es gerade an solchen Tagen wichtig, in irgendeiner Form in Austausch zu kommen. Das kann wie erwähnt über soziale Medien, einem Buch- oder Filmaustausch geschehen. Natürlich kann das nicht den persönlichen Kontakt ersetzen. Wir Menschen brauchen unsere Sozialkontakte. Das Schlimme ist ja der Gedanke: Alle anderen haben – nur ich sitze alleine da…

Die Botschaft an Weihnachten muss heißen, geh auf andere Menschen zu und bringe auch die Offenheit mit, dass der andere Willkommen ist.

Corona ist zwar da. Trotzdem gibt es die Chance, sich auf weniger Menschen zu konzentrieren und damit gemeinsame Zeiten viel intensiver zu verbringen. Der Austausch ist so viel anregender. Allerdings bringt nicht jeder Mensch das Verständnis für Feiern im kleineren Rahmen auf. Auch ich kenne Zeiten in meinem Leben, als es mir wichtig war, mit vielen Leuten zu feiern.

Man sollte die jetzige Situation als Chance nutzen und etwas draus zu machen. Man sollte nicht traurig sein, weil kein Treffen mit der Großfamilie stattfindet, sondern einfach den Rahmen nutzen, der in dieser Zeit möglich ist. Vielleicht gefällt es einem ja sogar so gut, dass man auch ohne Corona dabei bleibt…. So birgt das diesjährige Weihnachtsfest vielleicht gar kein Risiko, sondern es ist halt ein anderes.

Bilder: pixabay und privat